Wie aus vermeintlichem Abfall ein Genuss wird – das „Leaf-to-root“-Prinzip
Vergangenes Jahr habe ich an ähnlicher Stelle im Heft etwas überspitzt Gräben ausgemacht und angeprangert. Gräben zwischen den radikalen Verfechtern des auf offenen Flammen gebrutzelten, archaischen Fleischkonsums der Klischeemännerwelt und ihren Kontrahenten aus dem Sektor des weltverbessernden, freudlosen Verzichts beim leidvollen Kauen ungewürzten Rohgemüses. Wie schon erwähnt, es war überspitzt. Und doch stoße ich in meinem kulinarischen Altersfortschritt immer wieder auf tatsächliche Vorurteile am täglichen Kochtopf oder dem Restaurantteller. Deshalb hier eine weitere Folge meines Plädoyers für die Vielfalt in der Essenswelt – und natürlich auch in der Gesellschaft, aber das sollte selbstverständlich sein.
Die moderne Gemüseküche ist heute längst keine Verzichtssache mehr und hält Unmengen spannender Ansätze bereit, oft mit ehrenhaften Motiven. Einer davon ist das Zubereiten und Verzehren von allen Teilen der Pflanze, soweit das möglich und essbar ist. Analog zum „Nose-to-tail“-Prinzip beim Verarbeiten und Verzehren von Fleisch („Nose-to-tail“ = „von der Nase bis zum Schwanz“, sinnbildlich für „das ganze Tier“), sprechen Köche und Genießer von „Leaf-to-root“, also „vom Blatt bis zur Wurzel“. Damit ist das vollständige Verwerten von Gemüse gemeint. Die Idee zum Projekt und dessen Startschuss wird der Schweizer Journalistin und langjährigen Food-Bloggerin Esther Kern zugeschrieben, die 2014 anfing sich damit zu beschäftigen, warum etwa Karottengrün meist weggeworfen wird. Sicher, lässt man es an der Möhre dran, wird diese schneller weich und schlabbrig, weil das Grün die eigentliche Pflanze ist und die anhängende Karotte die Wurzel. Ist diese aus der Erde ausgegraben, zieht das Kraut sich Wasser aus der Möhre und diese geht ein. Kleiner Exkurs, trotzdem gibt es Rezepte, in denen das Karottengrün Verwendung findet (etwa als Pesto), ebenso wie andere ungewöhnliche Gemüseteile, die von kreativen wie auch eher traditionell ausgerichteten SpitzenköchInnen in kulinarische Höhepunkte verwandelt wurden. Kern sammelte diese Rezepte, vereinte sie 2016 in einem preisgekrönten Kochbuch und ein Trend war geboren.
Die Herangehensweise an diese spannende und manchmal im Kopf herausfordernde Art zu kochen ist nicht immer zwingend exotisch. Auf ihrem Blog beschreibt Kern, wie man das Umami-Potential von Gemüseresten weckt, statt sie auf den Kompost zu werfen. Schalen eignen sich hierzu laut dem Züricher Koch Jann M. Hoffmann perfekt, um eine Brühe mit Power herzustellen. Dafür werden Schalen und Abschnitte, etwa von Karotten, Lauch, Knollensellerie und Zwiebeln, erst im Ofen geröstet und anschließend gemeinsam mit Pilzen, Ingwer sowie Knoblauch aufgekocht. Für noch mehr Kraft gibt man nach dem Passieren zusätzlich Misopaste und Sojasauce hinzu – krasser Geschmack ohne Abfall.
Schaut man weiter auf die Rezeptsammlung und traut sich das Ausprobieren, dann hält die „Leaf-to-root“-Welt tolle Rezepte parat, die alleine schon mit ihrem ungewöhnlichen Anstrich zum Nachkochen einladen. Da wäre etwa ein Salat aus der Schale der Wassermelone, ursprünglich aus China stammend, wo laut Kern die Rezeptur bei den Menschen auf dem Land noch sehr weit verbreitet sei. Für den Salat schneidet man die hellgrüne Rinde der Wassermelone in feine Streifen (die dunkelgrüne äußere Schale ist nicht essbar), salzt sie ordentlich ein und lässt sie zunächst stehen. Ähnlich wie beim Vorbereiten von Auberginen, entzieht das Salz dem Gemüse das Wasser und es verliert dadurch seine zähe Textur. Danach mischt man die Schalenstreifen der Melone mit dem gewünschten Salatdressing, simpel und super.
So ist „Leaf-to-root“ vor allem eine Philosophie gegen das Verschwenden, ein Vermeiden von vermeidbarem Abfall, aus dem am Ende noch ein Genuss wird, mit dem man jahrelang nicht gerechnet hat, zumindest in meinem Fall als jemand, der am Herd Energie und Inspiration findet, ohne verbissen zu sein. Trotz aller guten Ansätze von Bewegungen wie „Leaf-to-root“ oder „Nose-to-tail“ für mehr Nachhaltigkeit im Alltagsleben und dem respektvollen Umgang mit Nahrungsmitteln, hat es am meisten doch jeder selbst mit seinem Verhalten in der Hand, so wenig wie möglich zu verschwenden und Abfälle zu vermeiden, die nicht sein müssen. Kauft immer nur das ein, was ihr auch wirklich essen könnt – und bleibt vielfältig, es lohnt sich. mw
Gemüse soweit wie möglich im Ganzen zu verzehren und dabei Türen zu neuen Genusswelten aufzustoßen, das sind Ziel und Ansatz von „Leaf-to-root“. Foto: Pixabay
Ein Beitrag von Matthias Weißmann
Erschienen im Magazin Pfeffer & Salz | 05/2022